Der französische Meisterhandwerker Arnaud Briand

Originalkopien der bedeutendsten Bildhauerwerke von der Antike bis zur Moderne

01.03.2018 Lesezeit: ca. MinutenMinute

Kopien von Meisterhand

Arnaud Briand gehört zu den Besten seines Fachs und fertigt im Auftrag der französischen Staatsmuseen Gipskopien der wichtigsten Skulpturen der Kunstgeschichte. Zur Abformung der Originale nutzt er Siliconelastomere von WACKER.

Moderne Sozialbauten, ein Dutzend von Kränen umstellte Baustellen und vom Unkraut überwucherte Grundstücke – so sieht die Nachbarschaft des „Atelier de moulage“ aus, das zu den französischen Staatsmuseen gehört. Das Atelier, dessen Aufgabe es ist, Originalkopien der bedeutendsten Bildhauerwerke von der Antike bis zur Moderne anzufertigen, sitzt in einem wenig einladenden, funktionalen 90er-Jahre-Metallbau im Pariser Vorort Saint-Denis – nur wenige Hundert Meter vom bekannten Fußballstadion entfernt. Dass der Sitz in der Banlieue nicht so recht zu den Vorstellungen passen will, die man gemeinhin mit den prachtvollen französischen Museen verbindet, ist schnell vergessen, sobald sich die Türe zum Atelier öffnet.

Drinnen, gleich neben dem Elektrokasten und dem Feuerlöscher, verführen drei Skulpturen der Marianne, des französischen Nationalsymbols, in den Farben Blau-Weiß-Rot die Besucher mit ihren gewagten Dekolletés. Im geräumigen Vorraum, der auch als Büro und Empfangszimmer dient, stapeln sich auf einfachen Holzregalen bis hinauf zur Decke weit über 250 Büsten und Kleinskulpturen. Den Blick in die Ferne gewandt, die Hände anmutig gefaltet, den Körper muskulös gestreckt. Ein mit Computer bestückter Schreibtisch verschwindet fast völlig hinter einer drei Meter langen, liegenden Monumentalfigur einer griechischen Göttin. Im hinteren Regal dient der Kopf einer Madonna als Buchstütze, vor einem altrömischen Relief stehen Karteikästen und direkt daneben teilt sich ein zartes Kinderantlitz den engen Regalplatz mit einer ausgetrunkenen Kaffeetasse.

Originalfigur wird vor Beschädigungen geschützt

Der erste Schritt beim Abdruck ist das Auftragen einer Schicht aus Polyvinylalkohol, mit der die Originalskulptur vor Beschädigungen beim Abdruck geschützt wird. Den ersten Abdruck erhält man immer vom Original, meint der Meister.

„Bei uns gibt es viele lustige Zufälle. Es gesellen sich Dinge zueinander, die eigentlich nicht zusammengehören“, sagt Arnaud Briand und lacht. Der 43-jährige Franzose ist Mouleur Statuaire, also Kunstformer und Gipsgießer, und darf sich seit 2015 „Meilleur Ouvrier de France“ nennen. Mit dieser hohen und lebenslang gültigen Auszeichnung, kurz MOF, werden in Frankreich besonders begabte Handwerker geehrt, die sich in einem anspruchsvollen Test als Meister ihres Fachs erwiesen haben. „Der Titel ist ein bisschen wie der heilige Gral“, erklärt Briand, der sich in der Klassifikation „dekorative Skulpturen aus Gips“ der Aufgabe stellte und reüssierte. „Es gibt nur vier oder fünf MOFs in ganz Frankreich in dieser Spezialisierung. Hier im Atelier bin ich der einzige.“

„So, wie ich früher die Lieferungen für die Küche managte, organisiere ich jetzt meine Zutaten für den Abdruck eines Werkes. Man muss dabei sehr gut vorbereitet sein.“

Arnaud Briand, Kunstformer und Gipsgießer, Meilleur Ouvrier de France (2015)

Arnaud Briand im Arbeitsatelier

Arnaud Briand in seinem Arbeitsatelier

gefertigte Kopien im Atelier de moulage

Manche der Kopien im Atelier de moulage sind über 200 Jahre alt und in einem besseren Zustand als ihr Original. Sie sind daher sehr wertvolle Zeitzeugen der jahrhundertealten Bildhauerkunst.

Einfühlungsvermögen nötig

Briand begann 2009 in Saint-Denis, als das renommierte Atelier des Louvre und der französischen Museen den Auftrag erhielt, die Gartenskulpturen im Schloss Versailles durch wetterbeständigere Gießharz-Kopien zu ersetzen. „Ich hatte beim vorherigen Arbeitgeber sehr viel mit Gießharzen gearbeitet und daher viel Erfahrung mit dem Material“, erklärt der Pariser, der als Quereinsteiger erst im Alter von 30 Jahren seine Leidenschaft für das Kunstgießer-Metier entdeckte. Vorher arbeitete er zehn Jahre sehr erfolgreich in der Gastronomie. Als sein damaliger Chef sein Restaurant schließen musste, stand er vor der Wahl, selbst eine Bar zu eröffnen oder den Beruf zu wechseln. Ein dreimonatiges Praktikum führte die Entscheidung herbei. „Meine Jahre in der Gastronomie helfen mir aber auch heute noch bei meiner Arbeit“, berichtet der Meisterhandwerker. „So, wie ich früher die Lieferungen für die Küche managte, organisiere ich jetzt meine Zutaten für den Abdruck eines Werkes. Man muss dabei sehr gut vorbereitet sein.“

Das sieht man auch: Auf Arnaud Briands Arbeitstisch liegt alles Nötige akkurat nebeneinander und wartet auf seinen Einsatz. Küchenutensilien wie Teigschaber, Messer und Suppenkelle sind neben zahlreichen Spachteln, einer Metallbürste, Schere, Schmirgelpapier und Elektrowaage positioniert. Große Werkzeuge wie Sägen und Elektrobohrer hängen griffbereit an der Wand. Die Fensterkonsole ist übersät mit Plastikbehältern voller Pinsel in allen Größen und Dicken. Ein ausgedientes Olivenglas ist mit weißem Spiritus gefüllt. „Der verträgt sich besonders gut mit Silicon. Zum Pinselreinigen ist das ideal.“

Beste Qualität vom Original

Arnaud Briand greift sich aus einer Packung ein Paar blaue Einweghandschuhe und beginnt mit der Arbeit an einer rund 30 Zentimeter hohen Büste aus dem 18. Jahrhundert. „Den besten Abdruck erhält man immer vom Original. Aber wir haben hier alte Gipsformen, die sind fast 200 Jahre alt und manchmal in einem besseren Zustand als die Originalskulptur“, erklärt er, während er Polyvinylalkohol als Schutzschicht auf die Büste pinselt.

Während diese Schutzschicht trocknet, mischt Briand das Silicon für die erste Schicht an. Er stellt einen Eimer auf die Waage und misst mit einem Wegwerf-Plastikbecher scheinbar nach Augenmaß die Inhaltsstoffe ab. Mit einem Teigschaber rührt der muskulöse Pariser dann das Gemenge an, dabei überprüft er ständig die Textur. „Ich habe zwar ein Buch mit allen Rezepturen, aber noch wichtiger sind die eigenen Erfahrungswerte“, berichtet Briand, „weil viele Faktoren, etwa die Raumtemperatur, eine große Rolle spielen können. Heute ist es beispielsweise ein bisschen kühl im Atelier. Das muss ich berücksichtigen.“

Bei ganz neuen Produkten hält sich Briand zuerst an die mitgelieferte technische Mischempfehlung, aber er sieht es als seine Aufgabe an, die Rezepte zu perfektionieren. „Nur durch Ausprobieren kann man ein Produkt zu Höchstleistungen führen. Ich bin sehr neugierig und teste gerne aus. Dabei erkenne ich die Grenzen eines Produktes und kann abschätzen, was geht und was nicht.“ Seine Erfahrungswerte gibt er danach gerne an die Hersteller weiter. Seine Wünsche auch.

Aktuell probiert Arnaud Briand einen neuen Härter von WACKER für seine Siliconkautschuke der Marke ELASTOSIL® M aus, die in Frankreich von dem Distributor ABYLA (Gazechim Gruppe) vertrieben werden. Der Katalysator NEO ist frei von organischen Zinnverbindungen und der dazugehörige Booster NEO sichert das Aushärten von größeren Schichtdicken – damit ist dieses Trio sehr gut geeignet für einen schnellen Abdruck.

Büste mit Arbeitsutensilien

Eine gute Vorbereitung und Organisation der Arbeitsutensilien sind unerlässlich beim Erstellen von Kopien, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren.

„Ich habe zwar ein Buch mit allen Rezepturen, aber noch wichtiger sind die eigenen Erfahrungswerte.“

Arnaud Briand, Kunstformer und Gipsgießer, Meilleur Ouvrier de France (2015)

„Das Produkt stellt für mich einen großen Schritt nach vorne dar“, sagt Briand. Schließlich haben er und seine Kollegen beim Auftrag in Versailles in nur eineinhalb Wochen 120 Kilogramm Silicon verarbeitet. Und selbst bei einer kleinen Büste, wie dem gerade bearbeiteten Kopf aus dem 18. Jahrhundert, sind es immerhin zwei bis drei Kilo, weil auf die Skulptur bis zu vier Schichten aufgetragen werden.

Bei jeder neuen Siliconschicht hat der Gussmeister leicht die Textur und die Zusammensetzung verändert sowie hier und da einige Tropfen eines Katalysators oder ein Verdickungsadditiv zugefügt. „Man erzielt ein besseres Ergebnis, wenn man bei den ersten beiden Schichten mit einem sehr flüssigen und danach mit einem dickeren Silicon arbeitet.“

Verschraubung der erstellten Einzelteile

Beim Abdruck im Gießverfahren werden vorab die erstellten Einzelteile fest miteinander verschraubt, bevor gegossen werden kann. Hier eine kleinformatige Kopie eines der Bestseller, der Nike von Samothrake.

Von der Figur tropft nun unablässig das Silicon auf den Arbeitstisch. Immer wieder schneidet der Gussmeister mit einer Schere die Tropfen ab und kontrolliert den Trocknungsfortschritt durch vorsichtiges Abtasten mit dem kleinen Finger. Rund eine halbe Stunde lässt er zwischen den Schichten jeweils verstreichen. Die letzte Schicht wird zusammen mit einem Glasfasernetz aufgetragen, das die vorherigen etwas umhüllt.

Für die schwierigen Stellen rund um Augen, Mund, Ohren und Nase der Skulptur nutzt Arnaud Briand eine Spritze mit einem recht zähflüssigen Silicon, das er mittels eines Verdickungsmittels optimiert hat und gezielt aufspritzt. Ungleichmäßigkeiten werden damit ausgeglichen und es entsteht eine homogene Oberfläche, die er anschließend mit einem angefeuchteten Schwamm vorsichtig abtupft. „Damit zerstöre ich Luftblasen, die sich beim Aufstreichen gebildet haben.“ Die Rückseite der Skulptur ist bereits ausreichend mit einer abschließenden Siliconkautschuk-Schicht verstärkt. Bei dieser letzten Schicht muss er ganz schnell und konzentriert arbeiten. Sie härtet in nur fünf Minuten.

Arnaud Briand nutzt vor allem zwei Silicon-Typen: ELASTOSIL® M 4514 setzt er für die Anfertigung von sogenannten Hautformen ein. Durch angepasstes Dosieren des Härters oder durch Zugabe des Verdickungsadditivs lässt sich diese Abformmasse auch vertikal und kontrolliert verarbeiten. Und ELASTOSIL® M 4630 A/B kommt für sogenannte Massivformen zum Einsatz, die im Gießverfahren hergestellt werden.

Die Herstellung von Siliconformen im Gießverfahren ist technisch sehr anspruchsvoll. „Während des Gusses kann man sich keinen Fehler erlauben, denn es lässt sich nichts mehr korrigieren“, betont der Handwerker. ELASTOSIL® M 4630 A/B eigne sich deshalb gut, weil es keinen chemischen Schrumpf aufweise und sich damit nicht zusammenziehe. Das Resultat und die Qualität der Arbeit sieht der Handwerker jedoch erst nach der Entformung des Modells. „In der Regel sind Gussmodelle haltbarer und besser als vertikal erstellte Abdrucke“, erklärt der Franzose und streicht sich nach getaner Arbeit über das bürstenkurze Haar.

„Während des Gusses kann man sich keinen Fehler erlauben, denn es lässt sich nichts mehr korrigieren.“

Arnaud Briand, Kunstformer und Gipsgießer, Meilleur Ouvrier de France (2015)

Arnaud Briand mischt Silicon an

Der Meisterhandwerker, als Meilleur Ouvrier de France geehrt, mischt das Silicon an. Die Rezeptur weiß er auswendig und passt sie je nach Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit an aktuelle Bedingungen an.

Dutzende Kopien möglich

Ein Gipsabdruck könne, wenn er niemals mit Wasser in Berührung komme, bis zu 1.000 Jahre halten, erklärt der Experte. Und ein Siliconmodell? „Das können wir noch nicht mit Sicherheit sagen, denn wir verwenden das Material erst seit 50 Jahren.“ Es kommt auch darauf an, wie häufig aus dem Abdruck eine Kopie gegossen wird. „Manche unserer Abdrücke hier sind schon 30 bis 40 Mal benutzt worden. Andere nur ein einziges Mal.“

Besonders gefragt seien Skulpturen von Molière, Voltaire und die Büste von Louis XIV. des Bildhauers Gian Lorenzo Bernini. „Der Italiener ist einer meiner Lieblingskünstler. Er ist ein Zeitgenosse von Michelangelo, aber in meinen Augen ist Berninis Werk noch größer als das von Michelangelo. Seine Skulpturen haben eine außergewöhnliche Finesse.“

Arnaud Briand ist am Ende seines Arbeitstags im „Atelier de moulage“ von Kopf bis Fuß mit weißen Sprenkeln von Gips-, Silicon- oder Harz übersät. Auch der Boden, die Arbeitstische, die Werkzeuge, einfach alles im „Atelier de moulage“ ist mit den weißen Tupfen „bekleckert“, nur die Skulpturen erstrahlen in makellosem Weiß.

Hat er ein Projekt, von dem er träumt? Der zweifache Vater braucht nicht lange zu überlegen: „Das schönste Projekt ist immer das, was man noch nicht gemacht hat“, sagt er im Gehen und schließt hinter sich die Türe des Ateliers. Seine stummen Bewohner, die Hundertschaften von Büsten und Skulpturen, warten nun darauf, dass der Neuzugang, der heute unter den Händen von Arnaud Briand entstand, aus der Trockenkammer kommt und sich zu ihnen ins Regal gesellt.

Fertiger Abdruck im Querschnitt

Ein fertiger Abdruck: Zahlreiche Schichten fügen sich zu einem festen Panzer, in dessen Zentrum die Rückseite einer Skulptur in Negativform zu sehen ist.