Alexander Wacker

Am 8. Juli 1918 empfing Alexander Wacker (2. v. l.) den bayerischen König Ludwig III. (4. v. l.) im neuen Werk in Burghausen. Für seine Leistung beim Aufbau des Betriebs wurde Alexander Wacker von Ludwig III. in den persönlichen Adelsstand erhoben.

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Ein Start-up-Unternehmer der Kaiserzeit

Alexander Wacker war kein Chemiker und kein Ingenieur, sondern gelernter Tuchhändler. Und doch wurde er, der vor 100 Jahren, am 6. April 1922 starb, zu einem der Pioniere der deutschen Industrie – erst der elektrotechnischen, dann der elektrochemischen. Zur Krönung seines Lebenswerks setzte er 1914 an – mit 68 Jahren. Seine Schöpfung, die Wacker Chemie, gehört heute auf all ihren Hauptgeschäftsfeldern zu den führenden Anbietern auf dem Weltmarkt.

Als Alexander Wacker am 13. Oktober 1914 die Wacker Chemie ins Handelsregister Traunstein eintragen ließ, war er 68 Jahre alt – und damit in einem Alter, in dem die meisten Menschen sich bereits zur Ruhe gesetzt haben, heute ohnehin, aber auch schon damals. Zudem hatte er gerade einen schweren Schicksalsschlag hinter sich: Sein Sohn Franz Alexander, ein Chemiker, den er zu seinem Nachfolger aufbauen wollte, war mit nur 31 Jahren gestorben. Und zu allem Unglück hatte in Europa gerade der Erste Weltkrieg begonnen – wirklich keine gute Zeit für neue Geschäfte.

Dennoch: Alexander Wacker, der schon auf eine lange Karriere zurückblicken konnte, in eigenen Firmen und den Firmen anderer, hielt zäh an seinen Plänen fest. Was trieb ihn an, sich am Ende seines Lebens noch einmal zu einem unternehmerischen Höhepunkt emporzuschwingen, der auch heute noch, nach über 100 Jahren Bestand hat? Wie so oft: Es lohnt ein Blick in die Kindheit.

Kaufmännische Lehre mit 15 Jahren im fernen Schwerin

Alexander Wackers Vater stirbt acht Monate vor seiner Geburt an Tuberkulose. Die Mutter heiratet wieder, ihr Sohn wächst bei der Großmutter und Tanten mütterlicherseits auf, auch wenn ein regelmäßiger Kontakt zur leiblichen Mutter erhalten bleibt. Der junge Alexander Wacker hätte gerne studiert, aber die finanziellen Mittel reichen nicht; die Familie nimmt ihn mit 15 Jahren aus der Schule heraus. Im fernen Schwerin tritt er 1862 bei einem Tuchhändler eine Kaufmannslehre an – ein Beruf, den er sich nicht gewünscht hat und der ihn nicht ausfüllt.

Man kann annehmen, dass diese frühen, aber für die damalige Zeit nicht ungewöhnlichen Schicksalsschläge seinen unternehmerischen Ehrgeiz angestachelt haben. Die Ehrungen in der letzten Phase seines Lebens, darunter zwei Ehrendoktorauszeichnungen der Universitäten Heidelberg und Göttingen und die Adelswürde, dürften ihm eine späte Genugtuung gewesen sein.

Alexander Wacker im Alter

Alexander Wacker

Generatoren im Muffatwerk, einem Elektrizitätswerk, das von der EAG in München errichtet wurde.

Generatoren im Muffatwerk, einem Elektrizitätswerk, das von der EAG in München errichtet wurde.

Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 setzen die sogenannten Gründerjahre ein – Jahrzehnte der rasanten industriellen Innovation und Expansion, die Deutschland bis 1914 zur zweitgrößten Industriemacht der Welt nach den USA machen.

Mit der Gründerzeit beginnen auch die unternehmerischen Wanderjahre von Alexander Wacker. In Kassel gründet er 1872 eine Seidenmanufaktur, in Leipzig übernimmt er 1875 ein Handelsgeschäft für Maschinen, bis er 1877 auf der Leipziger Messe den Feinmechanikermeister Sigmund Schuckert trifft – eine Begegnung, die wegweisend für seinen weiteren Lebensweg wird. Fortan verkauft Wacker die Dynamomaschinen und elektrischen Anlagen, die sein neuer Kompagnon in einer kleinen Werkstatt mit anfänglich nur 28 Mitarbeitern in Nürnberg herstellt.

Jetzt nimmt Alexander Wackers Karriere richtig Fahrt auf. 1884 wird er kaufmännischer Leiter der Schuckert-Werke und zieht nach Nürnberg. Vier Jahre später macht Schuckert ihn zum Teilhaber seines Konzerns, der im ausgehenden 19. Jahrhundert zu den Pionieren der Elektrifizierung in Europa zählt, ähnlich wie Siemens und AEG.

In ganz Europa baut er Vertriebsbüros für Schuckert auf, er muss ein begabter Verkäufer gewesen sein. „Wacker war in der Akquisition unerreicht“, sagte Georg Wilhelm von Siemens vom großen Konkurrenzkonzern über ihn.

Die Gründerjahre, in denen Alexander Wacker groß und wohlhabend wird, sind eine außerordentlich dynamische, fast schon atemlose Zeit, darin mit unserer vergleichbar. Eine stürmisch expandierende Industrie verändert zwischen 1871 und 1914 die Welt von Grund auf – mit Dynamos und Düngemitteln, Automobilen und Telefonen, synthetisch hergestellten Arzneimitteln und etwas später den ersten Kunststoffen. Elektrotechnik, Maschinenbau und chemische Industrie schaffen völlig neue Märkte, ja die Grundlagen einer neuen Welt – so wie dies heute die Informationstechnologie, das Internet und die Biotechnologie tun.

Was an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert ein Jack Ma, ein Elon Musk oder ein Steve Jobs sind, das waren 100 Jahre zuvor ein Werner von Siemens oder ein Andrew Carnegie. Oder eben ein Alexander Wacker. Wie ein Start-up-Unternehmer des Kaiserreichs wechselt er in jungen Jahren in schneller Folge die Städte und Firmen, saugt begierig Innovationen auf und probiert sich in verschiedenen Branchen aus. Er und Schuckert profitieren – auch das eine Parallele zu unserer Zeit – von dem Tempo, mit dem sich die Weltwirtschaft zum Ende des 19. Jahrhunderts vernetzt. Ein Tempo, das erst ein Jahrhundert später, im Globalisierungsschub nach der Öffnung des Ostblocks 1989/1991, wieder erreicht wird.

Unter der kaufmännischen Leitung von Alexander Wacker baut Schuckert für München 1886 seine erste elektrische Straßenbahn und 1887 für Lübeck sein erstes Elektrizitätswerk. Als Sigmund Schuckert sich 1892 aus dem von ihm gegründeten Unternehmen wegen eines Nervenleidens zurückziehen muss, wandeln die Teilhaber die Schuckert-Werke in die Elektrizitäts-AG, kurz EAG, mit Sitz ebenfalls in Nürnberg um. Ihr Generaldirektor: Alexander Wacker. Zur Jahrhundertwende hat das Unternehmen bereits 8.500 Mitarbeiter. Der Umsatz steigt stürmisch – von 56.000 Mark 1880 auf 46,5 Millionen 1898.

Für München lieferten die Schuckertwerke eine elektrische Straßenbahn, die 1886 den Betrieb aufnahm.

Für München lieferten die Schuckertwerke eine elektrische Straßenbahn, die 1886 den Betrieb aufnahm.

Carbidfabriken in Bosnien, der Schweiz und Norwegen

Elektrotechnische und chemische Industrie marschieren in den Gründerjahren anfangs noch getrennt, später immer stärker im Gleichschritt und profitierten gegenseitig von ihren Fortschritten. Zu Alexander Wackers unternehmerischem Gespür gehört, dass er diese Entwicklung vorhersieht. Direkt oder indirekt erwirbt er verschiedene Carbidfabriken u.a. in Bosnien, der Schweiz und Norwegen, wo mit großen Mengen günstigen Stroms aus Wasserkraft Calciumcarbid hergestellt wird. Ursprünglich sollte dieses Carbid zu Acetylen weiterverarbeitet und dann als Leuchtgas zur Stadtbeleuchtung verkauft werden, so Alexander Wackers Gedanke. Diese Rechnung geht aber nicht auf, die elektrische Glühbirne macht dem Gaslicht Konkurrenz, im privaten Bereich setzt sie sich bald durch, und für Acetylen findet sich kein Markt mehr.

Ein Rückschlag, der wohl größte seiner unternehmerischen Laufbahn: Doch Alexander Wacker lässt sich davon nicht entmutigen. Die Carbidfabriken und ein daran angeschlossenes Labor, aus dem später das Consortium werden sollte, bleiben ihm erhalten, als die EAG 1902 an Siemens & Halske verkauft wird. Schon vor dem Verkauf war er als Generaldirektor ausgeschieden und in den Aufsichtsrat der Gesellschaft gewechselt – eine Position, mit der er nie warm wird.

Was tun mit dem überzähligen Carbid? „Schafft mir das Carbid vom Hals!“, lautet sinngemäß Alexander Wackers Anweisung an seine Chemiker, als er 1903 das Consortium für elektrochemische Industrie in Nürnberg gründet.

Der Burghauser Anzeiger berichtete groß über den Besuch des letzten bayerischen Monarchen.

Der Burghauser Anzeiger berichtete groß über den Besuch des letzten bayerischen Monarchen.

Rund ein Dutzend Chemiker, Techniker und Assistenten arbeiten in dieser Interims-Periode von mehr als zehn Jahren im Consortium daran, geschäftlich nutzbare Verwertungsmöglichkeit für Carbid und Acetylen zu finden. Alexander Wacker, obgleich selbst kein Chemiker, hat einen langen Atem und versteht, dass systematische Forschung jedem geschäftlichen Erfolg vorausgeht – auch dies eine Überzeugung, die er in die spätere Wacker Chemie einbringt. Leisten kann er sich diese lange Phase der Grundlagenarbeit im Consortium, weil seine übernommenen Carbidfabriken trotz Überschussproduktion eine stabile wirtschaftliche Basis haben: die Herstellung von Ferro- und Siliciumlegierungen, die unter anderem zum Schweißen und bei der Stahlherstellung gebraucht wurden.

Das Consortium wird zwischen 1903 und 1914 zu einer Art wissenschaftlichem Hot Spot der späteren Wacker Chemie. Seine Chemiker melden Patente im Dutzend an, die zum Teil an andere Firmen lizenziert werden, zum Teil aber auch – wie die Chlorkohlenwasserstoffe – bis in die 1990er-Jahre eine geschäftliche Säule von WACKER bilden. Allen voran: das 1. WACKER-Verfahren zur Herstellung von Acetaldehyd, das zu synthetischer Essigsäure und später zu Vinylacetat weiterverarbeitet wird – quasi der Urknall für die bis heute hoch erfolgreiche VINNAPAS®-Produktreihe des Geschäftsbereichs WACKER POLYMERS.

Nun fehlt es Alexander Wacker in seiner südbayerischen Wahlheimat lediglich noch an einem großen elektrochemischen Werk, um die Patente aus dem Consortium in die Produktionswirklichkeit umzusetzen. Die Wahl fällt 1913 auf das damals sehr abgelegene und in keiner Weise industrialisierte Burghausen, weil das Höhengefälle von rund 70 Metern zwischen den Flüssen Alz und Salzach mittels eines Kanals den Bau eines Wasserkraftwerks erlaubt. Und eine chemische Produktion braucht damals schon große Mengen Strom.

Doch der Beginn des Ersten Weltkriegs bringt 1914 die Arbeiten am Alzkanal und am WACKER-Werk zunächst zum Erliegen, bis das Kriegsministerium in Berlin auf ein am Consortium entwickeltes Verfahren zur Herstellung von Aceton aus Essigsäure aufmerksam wird. Aceton ist der Grundstoff, aus dem Bayer in Leverkusen künstlichen Kautschuk zur Abdichtung der Akkumulatoren von U-Booten fertigt. Auf einmal ist das neue WACKER-Werk kriegswichtig und es muss alles sehr schnell gehen. Am 7. Dezember 1916 wird in Burghausen die weltweit erste Industrieproduktion von synthetischem Aceton angefahren. Dafür wird Alexander Wacker vom letzten bayerischen König Ludwig III.1918 in den persönlichen Adelsstand erhoben.

Wenige Monate später ist der Krieg verloren und das Königreich Bayern Geschichte, ebenso das Deutsche Kaiserreich. Und auch Aceton für den U-Boot-Bau braucht nach 1918 niemand mehr in Deutschland – 60 Prozent des Umsatzes sind mit einem Schlag weg.

Regelung des Lebenswerks hat bis heute Bestand

Geheimrat Dr. Alexander Ritter von Wacker, wie er sich jetzt nennen darf, steht in den letzten vier Jahren seines Lebens erneut vor einer enormen Herausforderung, die man heute mit dem Begriff Transformation umschreiben würde. Er muss den Umstieg von einer militärischen auf eine zivile Produktion meistern. Auch diese Aufgabe geht der mittlerweile 72 Jahre alte Alexander von Wacker entschlossen an, ebenso wie die Regelung seines Lebenswerks. 1920 überträgt er seine Anteile an der Wacker Chemie auf eine Familiengesellschaft – eine Regelung, die bis heute Bestand hat und dem Unternehmen Kontinuität und Stabilität sichert.

1921 wiederum überträgt die Familie die Hälfte ihrer Anteile auf den Hoechst-Konzern. Alexander Wacker braucht dringend Kapital, um die immens gestiegenen Kosten für den Alzkanalbau decken zu können. Dieses Joint-Venture, wenngleich es damals noch nicht so heißt, bildet über viele Jahrzehnte eine erfolgreiche Partnerschaft. 2005 und 2006, kurz vor dem Börsengang der Wacker Chemie AG, kauft die Familie unter Führung von Dr. Peter-Alexander Wacker, einem Urenkel von Alexander Wacker, dann die Hoechst-Anteile zurück.

Als Alexander Wacker kurz vor seinem 76. Geburtstag am 6. April 1922 stirbt, hat er mit den Regelungen auf der Eigentümerseite seine letzte und beständigste Unternehmensgründung gesichert. Und im abgelegenen Burghausen, im Südosten Bayerns, hat er einen Pionier der großtechnischen Chemie geschaffen, der heute auf allen seinen Hauptgeschäftsfeldern zu den drei führenden Anbietern auf dem Weltmarkt gehört und große Verbundstandorte betreibt – in Deutschland ebenso wie in den USA, China und Korea. Alexander Wackers Lust auf Innovation und Expansion, auf das Entwickeln neuer Technologien und Geschäftsfelder ist auch 100 Jahre nach seinem Tod in dem von ihm gegründeten Konzern hoch lebendig.

Das Start-up-Gen dieses Industriepioniers aus der nur auf den ersten Blick fernen Kaiserzeit – es steckt tief im Erbgut der Wacker Chemie AG. Die unternehmerische Tradition, für die Alexander Wacker das Fundament gelegt hat, ist bis heute ungebrochen. Die Familie des Gründers pflegt dieses Erbe und schreibt es in die Zukunft fort.

1917: In den Aufbaujahren bestand das Werk Burghausen im Wesentlichen aus Acetonbetrieb, Quecksilberoxid-Elektrolyse, Hauptgebäude, Werkstätten und dem Kesselhaus.

1917: In den Aufbaujahren bestand das Werk Burghausen im Wesentlichen aus Acetonbetrieb, Quecksilberoxid-Elektrolyse, Hauptgebäude, Werkstätten und dem Kesselhaus.

1922: Bau der Alzwerke in Burghausen: Alexander Wackers Vision von einer chemischen Produktion mittels Strom aus Wasserkraft wurde in seinen eigenen Werken konsequent umgesetzt.

1922: Bau der Alzwerke in Burghausen: Alexander Wackers Vision von einer chemischen Produktion mittels Strom aus Wasserkraft wurde in seinen eigenen Werken konsequent umgesetzt.