Hans R. Bauer an der Dosieranlage

Die klassische Unterwäsche ist noch lange nicht ausentwickelt

01.10.2018 Lesezeit: ca. MinutenMinute

Mehr Tragekomfort

Der Textiltechniker Hans R. Bauer zeigt, wie mit moderner Technik, neuen Materialien und viel Innovationsgeist ein herkömmliches Produkt neu gestaltet werden kann.

Die Düse der Dosieranlage schwenkt in langen, fließenden Bewegungen über das schwarzgraue Synthetikgewebe aus Lycra- und Polyamidfaser und zeichnet mit einem farblosen Flüssigsiliconkautschuk die Konturen eines Kleidungsstücks nach. Anfang und Ende werden durch ein rotes Laserkreuz markiert. Was hier in Balingen auf der schwäbischen Alb mit neuester Technik entsteht, ist ein herkömmliches Kleidungsstück im neuen Gewand: ein Sport-BH.

Nachdem nun auch die Träger des BHs mit drei vertikalen Siliconstreifen verstärkt sind, macht die Dosieranlage eine kurze Pause, heizt den 3D-Druckkopf auf und steuert dann die sogenannten Körbchen an. Am Körbchenbogen drückt der Dispenser einen verstärkenden Kunststoff – ein elastisches Polyamid – in das Siliconbett hinein.

Sanfte Alternative

„Indem wir den traditionellen Metallbügel eines Sport-BHs durch Silicon und Polyamid ersetzen, schaffen wir einen unvergleichlichen Tragekomfort“, sagt Hans R. Bauer, Geschäftsführer und Gründer der Firma New Textile Technologies (NTT) GmbH. SensWire – bügellos – nennt NTT diese patentierte Technologie. Der klassische Metallbügel sei in den letzten Jahren unter gesundheitlichen Aspekten in die Diskussion gekommen, so Bauer. Zwar gibt der deutsche Krebsinformationsdienst Entwarnung – ein Zusammenhang zwischen dem Tragen von BHs, mit oder ohne Bügel, und der Entstehung von Krebs sei nicht nachzuweisen. Doch viele Frauen suchen nach sanfteren Alternativen zu dem starren Metallbügel – und die von Hans R. Bauer entwickelte Konstruktion kann sie ihnen bieten.

Ein elastischer Kunststoff wie Silicon, an kritischen Stellen wie dem BH-Körbchen eventuell verstärkt durch einen weiteren Kunststoff wie Polyamid, passt sich deutlich besser dem menschlichen Körper an und verhindert so schmerzhafte Druckstellen.

Silicon im fertigen Produkt

Im fertigen Produkt wirkt das Silicon als Gestaltungs und Stützelement gleichermaßen.

Prüfung des fertigen Produktes

Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern prüft Hans R. Bauer (r.) die fertigen Büstenhalter, die nach dem von ihm entwickelten Herstellungsprozess fast ohne Nähte auskommen.

Hans R. Bauer mit entworfenem Produkt

Hans R. Bauer mit dem Modell eines von ihm entworfenen Sport-BHs. Für dessen innovative, nahtlose Konstruktion wurde er mit dem Preis der Sportartikelmesse ISPO ausgezeichnet.

Prinzip der Hängebrücke

Hans R. Bauer vergleicht die von ihm entwickelte Technik der BH-Herstellung mit dem Konstruktionsprinzip von Hängebrücken wie der Golden Gate Bridge: Die Träger des BHs funktionieren wie Pylonen, die hoch aufragenden statischen Brückenpfeiler, an denen flexible Tragseile befestigt sind. Die lang gezogenen, vertikalen Beschichtungen aus Silicon, die auf den Trägern aufgebracht sind, nehmen im BH die Rolle der Tragseile ein, die das eigentliche Gewicht der Brust halten. Am unteren Ende der beiden Körbchen werden diese Siliconbeschichtungen noch durch einen verstärkenden Kunststoff (Polyamid) unterstützt.

Nachdem das Kleidungsstück komplett mit Silicon verstärkt ist, holt es ein Arbeiter aus dem Dispenser heraus. Kleinteilige, von den hauseigenen Textildesignern entworfene Muster aus Silicon, die nicht von der Dosieranlage umgesetzt werden können, werden vor Ort im Siebdruckverfahren hinzugefügt.

Danach erfolgt im nächsten Arbeitsschritt die sogenannte Beflockung. Mittels eines elektrostatischen Dosiergeräts, das an einen Pfefferstreuer erinnert, werden nach dem Prinzip der Pulverbeschichtung schwarzgraue Polyamidflocken auf den noch feuchten Siliconlinien verteilt. Dies geschieht aus gestalterischen Gründen, um eine textile Oberfläche zu erhalten, aber auch um die natürliche Klebrigkeit des unbeflockten Silicons zu unterdrücken. Auf der Innenseite von Textilien kann diese Klebrigkeit hingegen erwünscht sein, um den Halt am Körper zu gewährleisten.

Optisch ist der BH nun perfekt. Er kommt jetzt in die Trocknungsanlage und wird für zehn Minuten auf 145 Grad Celsius aufgeheizt, damit das Silicon vulkanisieren kann.

Doch wie so oft steckt mehr hinter dem Design, als das bloße Auge verrät. Die von NTT-Fachleuten entwickelte Technologie SensElast 3D für die nahtfreie Fertigung von Bekleidungsstücken sorgt für den außergewöhnlichen Tragekomfort der produzierten Sport-BHs.

„Unterwäsche, die mit dieser Technik hergestellt wird, fühlt sich wie eine zweite Haut an“, sagt Hans R. Bauer. Für den Einsatz beider Technologien – SensWire und SensElast 3D – wurde die Balinger Firma auf der diesjährigen ISPO in München, der weltgrößten Sportartikelmesse, mit dem Award in der Kategorie Health & Fitness – Sports Bra ausgezeichnet.

Polyamid wird in Linien aus Silicon gedrückt

Die Dosieranlage drückt Polyamid in die tragenden Linien aus Silicon, um deren Haltekraft zu erhöhen.

Polyamidflocken werden auf Silicon verteilt

Von Hand werden Polyamidflocken auf dem noch nicht ausgehärteten Silicon verteilt, um es farblich und haptisch an den Rest des Kleidungsstücks anzugleichen.

Schlauchware ohne Nähte

Die nahtlose Fertigung von Textilien – im Fachjargon sogenannten Schlauchwaren – gehört zu den Kernkompetenzen des Balinger Unternehmens NTT, das von Hans R. Bauer 1999 gegründet wurde. „Ein erfinderischer Drang war schon immer vorhanden“, erzählt der gelernte Textilmechaniker Bauer. Als technischer Leiter in der Strickerei seines Schwiegervaters erwarb Bauer, der mehrere Patente hält, all die vielfältigen Kompetenzen, die er schließlich in seine eigene Firma einbringen konnte: Maschen- und Materialkunde, das Entwickeln und Einrichten von Maschinen, die Spezifikation von Kundenanforderungen, Textildesign und vieles mehr. Mit den von ihm entwickelten Fertigungsverfahren hat Bauer die Textilkonfektion gewissermaßen zweimal neu erfunden.

Obwohl NTT auch einzelne Serien herstellt, ist das Kerngeschäft des Unternehmens Prototyping. Hans R. Bauer und seine 25 Mitarbeiter – darunter einige Textilingenieure von der nahen Fachhochschule Albstadt-Sigmaringen – entwickeln innovative Technologien und Prozesse, mit denen dann die Branchengrößen produzieren. „Wir arbeiten mit Laserzuschnitt, Ultraschallschweißen, Dispensen oder Siebdruck mit Silicon – das kann nicht jeder. Zusätzlich haben wir uns in den letzten 15 Jahren Kompetenz in der Fertigung von sogenannten Smart Textiles erworben“, betont Bauer.

Weltweit ausgerollt

Zu den offiziellen Lizenznehmern von NTT gehört beispielsweise MAS in Sri Lanka, einer der weltgrößten Auftragshersteller von Unterwäsche, Sportwäsche und anderen Textilien, der rund 100.000 Mitarbeiter beschäftigt und für fast alle großen Bekleidungsmarken der Welt produziert. Seit 2016 unterhält NTT zudem einen eigenen Produktionsbetrieb in Kroatien, der es ermöglicht, die in Balingen entwickelten Produkte herzustellen.

Zwar lässt kaum noch ein Bekleidungs- und Sportartikelhersteller seine Standardartikel in größeren Serien in Europa fertigen – zu hoch sind die Personalkosten –, doch Hans R. Bauer hofft, dass mit der von ihm entwickelten, hochautomatisierten Technologie die Produktion von hochwertiger Wäsche auch hierzulande wieder interessant wird. Ein BH besteht aus rund 40 Teilen und mit der von Bauer entwickelten Technologie läuft die gesamte Grundkonstruktion auf einer Linie. Momentan tüfteln Bauer und seine Textilingenieure an einer Maschine, die sowohl als Dispenser fungiert als auch den Siliconsiebdruck mit seinen vielfältigeren Gestaltungsmöglichkeiten beherrscht – „so eine Art Eier legende Wollmilchsau“.

Mit Silicon als Werkstoff kam NTT-Entwicklungschef und -Inhaber Hans R. Bauer vor rund 20 Jahren erstmals in Berührung, als ein großer deutscher Textilhersteller nach Möglichkeiten suchte, seine hochwertigen Bodys zu verbessern. Das Problem: Diese Unterwäsche werde vor allem von einer älteren Zielgruppe gekauft, was besondere Anforderungen an das Produkt bedeute, so Bauer. Die Bodys sollten über sogenannte Stützen zur Unterstützung des Bindegewebes verfügen, die den Körper straffen und formen. Dass dies ohne sichtbare und unkomfortable Naht, sondern mit Silicon geschehen kann, zeigte Bauer mit dem von ihm entwickelten Produkt.

„In High-End-Produkten wie dem von uns mitentwickelten Elektrokompressionsanzug liegt die Zukunft der deutschen Textilindustrie.“

Hans R. Bauer, Inhaber und Geschäftsführer, NTT

Anzug zur Elektro-Muskelstimulation

Für die Marke ANTELOPE.CLUB entwickelte Hans R. Bauer einen Anzug zur Elektro-Muskelstimulation, der mit rußgefülltem – und damit leitfähig gemachtem – Spezialsilicon von WACKER beschichtet ist. Er wird beim Training unter eine leichte Spannung gesetzt und regt so das Muskelwachstum an.

Zwei Raupen aus Silicon

Zwei sogenannte Raupen aus Silicon. Links ist das unbeflockte Silicon zu sehen, rechts eine Siliconraupe mit eingedrücktem Polyamid-Kern und Flockfasern auf der Außenseite. Dadurch erhält das Silicon eine textile Oberfläche.

Funktional und Komfortabel

Damit Funktionalität und Komfort einhergehen können, verwendet NTT einen zweikomponentigen Flüssigsiliconkautschuk (LSR) von WACKER. Das Material ist leicht pigmentierbar und verfügt über gute mechanische Eigenschaften. Zudem benötigen die verwendeten Flüssigsilicone nur kurze Vulkanisationszeiten – eine Eigenschaft, die für die Textilindustrie wichtig ist, da sie auf schnellen Durchsatz ausgelegt ist. Das Silicon wird nach dem Vulkanisieren unter Hitzeeinwirkung mit dem darunterliegenden Kunstfasergewebe verklebt. Ohne zusätzliche Verklebung erhält das Produkt stützende Eigenschaften und bleibt dabei elastisch.

Silicon verhindert abrutschen

Durch dieses außergewöhnliche Eigenschaftsprofil sind die Anwendungsgebiete vielfältig. So ersetzt beispielsweise eine Siliconbeschichtung in halterlosen Damenstrümpfen oder Herrenunterhosen die zuvor verwendeten elastischen Bänder, die eingeklebt oder eingenäht waren. Die Siliconschicht auf dem Rand der Hose oder des Strumpfes sorgt dafür, dass die Textilien ausreichend straff am Körper sitzen und nicht rutschen. Das Silicon kann auch offen auf dem Innenbund des Textils liegen, um als Anti-Rutsch-Beschichtung die Haltekraft zu verstärken.

In den ersten Jahren hatten Hans R. Bauer und seine Mitarbeiter noch mit anderen Werkstoffen, zum Beispiel Polyurethan, als Stützmaterialien für Unterwäsche und Sportbekleidung experimentiert. Er kam aber dann schnell zu dem Schluss: „Auf dem gesamten Markt gibt es kein Material, das mit Silicon vergleichbar ist.“

Training unter Strom

Siliconkautschuke machen sogar noch deutlich ambitioniertere Anwendungen möglich. So produziert NTT im Auftrag des Frankfurter Startups Antelope einen Kompressions-Sportanzug mit integrierter Elektro-Muskel-Stimulation (EMS). Während des Trainings wird der Anzug unter leichte Spannung gesetzt, was gleichzeitig das Muskelwachstum anregen und die Regenerationszeit verkürzen soll. Das Anlegen einer Spannung wird deshalb möglich, weil das Innere dieses Sportanzugs mit Silber sowie einem rußgefüllten – und damit leitfähig gemachten – Spezialsilicon von WACKER beschichtet ist. In solchen hochpreisigen, künftig eventuell auch individuell angefertigten Produkten sieht Hans R. Bauer die Zukunft der deutschen Textilindustrie. „Die klassische Unterwäsche ist noch längst nicht ausentwickelt“, sagt er.

Kontakt

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Frau Michaela Tramp
Sales Managerin
WACKER SILICONES
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