Züge im Bahnhof

Bei der Deutschen Bahn sind über 100 verschiedene Zugtypen im Einsatz – und nicht für alle gibt es noch Ersatzteile auf Lager.

01.03.2018 Lesezeit: ca. MinutenMinute

Damit die Räder weiterrollen

In einem groß angelegten Konzernprojekt prüft die Deutsche Bahn Einsatzmöglichkeiten des 3D-Drucks, um kritische Bauteile kostengünstig und qualitativ hochwertig nachfertigen zu können. Wegen ihrer außerordentlich hohen Beständigkeit und ihres breiten Einsatzspektrums gehören Siliconkautschuke zu den besonders interessanten Materialien, die sich derzeit in der Evaluation befinden.

Die Deutsche Bahn AG (DB AG) unterhält ein Streckennetz von 33.400 Kilometer Länge, das jeden Tag von rund 40.000 Zügen befahren wird. Um die Mobilität dieser Flotte auf den Schienen zu gewährleisten, bedarf es einer ausgeklügelten Logistikkette und der ständigen Verfügbarkeit der notwendigen Komponenten.

Allein das Netz umspannt Fahrweg, Oberbau, Gleisbett, Oberleitung und Energieversorgung. Und der heterogene Fahrzeugpool ist nicht minder komplex, wie Florens Lichte, Leiter Konzernprojekt 3D-Druck bei der Deutschen Bahn, erklärt: „Wir haben insgesamt über 100 Jahre Eisenbahngeschichte zu bewältigen. Das beginnt mit rund zehn verschiedenen Herstellern und endet bei über 100 verschiedenen Zügen und Bauarten.“ Allein der ICE fährt seit 1989 mittlerweile in der vierten Generation. „Die Materialversorgung insbesondere im Bereich Ersatzteile ist damit eine unserer größten Herausforderungen“, betont Lichte.

Membranen aus Siliconkautschuk

Membranen aus Siliconkautschuk, die mit dem 3D-Druckverfahren von ACEO® hergestellt wurden. Diese Membranen werden für die Bremsen von Zügen benötigt.

„Wir haben über 100 Jahre Eisenbahngeschichte zu bewältigen. Das beginnt mit rund zehn verschiedenen Herstellern und endet bei über 100 verschiedenen Zügen und Bauarten.“

Florens Lichte, Leiter Konzernprojekt 3D-Druck, Deutsche Bahn AG

Suche nach neuen Wegen

Um diese Aufgaben auch in Zukunft bewältigen zu können, startete die DB AG im Jahr 2015 das Konzernprojekt 3D-Druck. Es vereint über alle Sparten die Suche nach neuen Wegen, um Mobilität und Logistik mittels dieser innovativen Fertigungsmethode sicherstellen zu können. Dazu zählt auch der 3D-Druck mit Siliconkautschuken, wie ihn das WACKER-interne Start-up ACEO® anbietet.

Als Pate fungiert der Instandhaltungsbereich unter der Projektleitung von Florens Lichte, der bereits bei seinem Einstieg 2014 ein erstes 3D-Projekt realisierte. Damals druckte er einfache Mantelhaken, wodurch eine erste Berührung mit dem Thema erfolgte. Aus den ersten Mantelhaken wurden unter seiner Ägide allein im Jahr 2016 rund 50 weitere Anwendungen, von denen insgesamt 1.000 3D-gedruckte Teile gefertigt wurden. Im Jahr 2017 hat sich diese Stückzahl bereits verdoppelt und für 2018 steht ganz klar das Ziel von 15.000 Stück im Raum.

Weshalb ausgerechnet das Eisenbahngeschäft ein Auge auf den 3D-Druck geworfen hat, wird klar, wenn man einen Einblick in die Vielzahl der Einsatzmöglichkeiten bekommt. So sind bei der Bahn nach wie vor 800 vollkommen mechanisch betätigte Stellwerke im Einsatz, deren aufwendige Modernisierung sich häufig schlichtweg nicht lohnt.

Sowohl für die Infrastrukturanlagen als auch für die Fahrzeugflotte gilt es, ständig Ersatzteile vorzuhalten, die jedoch häufig aus verschiedensten Gründen nicht mehr wiederbeschafft werden können – sei es durch die Einstellung der Produktion oder den Konkurs des Lieferanten. Eine besonders große Lücke ergibt sich in der Versorgungskette, wie Lichte beschreibt: „Gerade bei der Alttechnik stoßen wir immer wieder auf Ersatzteilprobleme. Ein Zug hat eine Abschreibungsdauer von 25 Jahren, während die Nutzungsdauer nicht selten bei 40 bis 50 Jahren liegt. Die Ersatzteilversorgung wird in der Regel jedoch nur über einen Zeitraum von 15 Jahren vom Hersteller garantiert.“

Das Team um Florens Lichte muss sich im Rahmen des Projekts mit verschiedenen Materialien und Herstellungstechnologien befassen. Der komplette 3D-Druck-Markt wird regelmäßig auf neue Technologien und ihren Reifegrad hin gescreent. Gerade bei der Teileidentifikation und den Qualifizierungsanforderungen stoßen die meist jungen Unternehmen schnell an ihre Grenzen. Die Teile müssen normativen Standards entsprechen, damit sie auch im aktiven Betrieb eingesetzt werden können. Aktuell sind zwei Materialiengruppen aktiv bei der Deutschen Bahn im Einsatz: Metalle und organische Kunststoffe.

Dabei stellt Kunststoff das am meisten verwendete Material bei Teilegrößen von bis zu 60 Zentimetern im industrialisierten Bereich dar. Bislang nutzt die DB AG vorwiegend Polyamide oder Polyetherimide, die oftmals noch mit Additiven versehen sind, um sie flammfest auszurüsten. Verbaut werden die „gedruckten“ Ersatzteile vor allem in nicht sicherheitskritischen Anwendungen im Maschinenraum, aber auch im Fahrgastbereich, zum Beispiel für Kopfstützenschalen, Gehäuseabdeckungen oder Klemmstücke für Sonnenschutzrollos.

Besonders für Anwendungen, bei denen die Kunststoffe deutlich höheren Belastungen ausgesetzt sind, eignen sich Siliconelastomere. Dabei handelt es sich um formfeste, aber elastisch verformbare Kunststoffe, die sich bei Zug- und Druckbelastung – nicht anders als Kunststoffe auf organischer Basis – verformen und danach wieder ihre ursprüngliche Form annehmen. Siliconelastomere weisen aber gegenüber organisch basierten Kunststoffen deutliche Vorteile bei Stabilität und Resistenz gegenüber diversen Einflussfaktoren auf, weshalb die DB AG derzeit gerade ihre Verwendung im 3D-Druck intensiv prüfen lässt. So zeichnen sich Silicone durch eine sehr hohe Thermo- und thermooxidative Beständigkeit aus. Sie verfügen zudem über eine geringere Empfindlichkeit gegenüber elektromagnetischer oder UV-Strahlung und halten auch Kontakt zu heißem Wasser oder Wasserdampf stand. Das macht sie besonders für sicherheitskritische Anwendungen interessant.

Blick in ein Kontrollzentrum

Blick in ein Kontrollzentrum der Deutschen Bahn: Die hohe Komplexität dieses Verkehrssystems, das nicht nur Züge, sondern auch Fahrwege, Oberleitungen, Bahnhofsbauten und vieles mehr umfasst, macht es für die individuelle Ersatzteilbeschaffung im 3D-Druck besonders interessant.

„Insbesondere für Bremskomponenten ist es sehr schwierig, Ersatzteile wie Membranen zu bekommen. Wir haben dies als Chance für unser Projekt identifiziert und sind beim Marktscreening auf ACEO® als einen der wenigen ernst zu nehmenden Partner gestoßen, die solche Elastomerteile anbieten.“

Florens Lichte, Leiter Konzernprojekt 3D-Druck, Deutsche Bahn AG

Instandhaltungswerk der Deutschen Bahn im hessischen Fulda

Blick ins Instandhaltungswerk der Deutschen Bahn im hessischen Fulda: Das Werk wurde vor 150 Jahren als Eisenbahn-Reparaturwerkstatt direkt am Hauptbahnhof eröffnet. Heute ist es ein hoch spezialisiertes Kompetenzzentrum für Bremskomponenten.

Mitarbeiter in DB-Werk

584 Mitarbeiter überprüfen, reparieren und modernisieren Bremsen unterschiedlicher Bauart, die in allen anderen DB-Werken deutschland- und europaweit bei externen Kunden eingebaut werden. Außerdem entwickeln und bauen sie eigene Prüftechnik, die auch mobil eingesetzt werden kann. Die dort hergestellten Bremsprüfgeräte sind zum Beispiel in Algerien, Italien, Kuba, der Schweiz oder in Russland im Einsatz.

Start-up im Konzern

Bei ACEO® handelt es sich um ein internes Start-up der Wacker Chemie AG, das sich auf den 3D-Druck von Siliconkautschuken spezialisiert hat. Mit rund 3.000 Standard-Siliconprodukten und mehr als 70 Jahren Know-how in diesem Bereich zählt WACKER zu den weltweit größten Siliconherstellern und ist darüber hinaus Marktführer in wichtigen Teilsegmenten. Unter der Leitung von Dr. Bernd Pachaly, dem Projektmanager von ACEO®, entwickelte ein Expertenteam des Konzerns seit 2014 nicht nur die Siliconelastomere für den Druck, sondern auch die nötige Hardware und Software, um solche Teile ganz nach den individuellen Anforderungen der Kunden herstellen zu können.

„Unser Anspruch war von Anfang an, dass wir für den 3D-Druck Silicone mit den gleichen Eigenschaftsprofilen formulieren wollen, wie sie auch unsere Elastomere haben, die auf herkömmlichem Weg verarbeitet werden, etwa im Spritzguss“, betont Dr. Pachaly. „Silicone für den 3D-Druck müssen ebenso Druck, Hitze und anderen Belastungen standhalten können wie herkömmliche Silicone.“

CAD-Designs hochladen

Beim Geschäftsmodell aber ging ACEO® komplett neue Wege, weshalb das Projekt 2016 einen besonderen Status als internes Start-up innerhalb der Wacker Chemie AG erhielt. Mit dem ersten Onlineshop für 3D-gedruckte Silicone können Produktdesigner ihre CAD-Designs einfach hochladen und erhalten dann binnen ein paar Tagen ihr 3D-gedrucktes Siliconteil weltweit geliefert. Das Open Print Lab von ACEO® in Burghausen bietet Kunden darüber hinaus die Möglichkeit, sich direkt vor Ort mit der Technologie vertraut zu machen und sogar am Ende der individuell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Workshops selbst Testteile zu produzieren. „Um den Kunden die nie vorher da gewesenen Möglichkeiten unserer Technologie näherbringen zu können, ist der kontinuierliche Austausch und der daraus entstehende Lernprozess ebenso essenziell wie Pioniergeist“, betont Projektmanager Pachaly.

Aus einem ersten Kontakt ergab sich im Herbst 2017 ein gemeinsamer Workshop im Werk Fulda der DB Fahrzeuginstandhaltung GmbH, bei dem sich Entwickler und Ingenieure seitens der DB AG und ACEO® erstmals austauschen und mögliche Anwendungen und Herausforderungen eruieren konnten. „Dass wir nach unserem Launch vor knapp zwei Jahren unsere Expertise nun mit der Deutschen Bahn teilen dürfen, ist für uns ein weiterer Meilenstein“, hebt ACEO®-Chef Pachaly hervor.

Als erstes Testteil soll aus dieser Partnerschaft eine Bremsmembran hervorgehen. Ziel ist es, eine Membran zu entwickeln, die im Steuerventil einer Zugbremse als Bauteil eingesetzt werden kann. Diese hat die Form einer tellerförmigen Scheibe mit Dichtlippen, einen Durchmesser von knapp elf Zentimetern, ist mit vier Millimetern relativ flach und sie soll natürlich höchsten Materialansprüchen genügen, wie Florens Lichte betont. „Die Silicone von ACEO® weisen definitiv ein Alleinstellungsmerkmal auf “, sagt er. „Viele der Konkurrenzprodukte werden sehr schnell spröde, wodurch sie als Bauteile für unsere Züge nicht infrage kommen. Bei ACEO® sehen wir nicht nur für diese eine Anwendung großes Potenzial.“ Langzeittests sind bereits in Planung und beide Seiten sind zuversichtlich, noch das eine oder andere gemeinsame Thema zu finden.

Form von ACEO®

Das Druckverfahren von ACEO® erlaubt es, Produktmuster in den individuell vom Kunden gewünschten Formen anzufertigen, solange diese eine gewisse Größe nicht überschreiten.

Letztlich geht es darum, mithilfe von innovativen Technologien wie dem 3D-Druck die Mobilität der Flotte sicherzustellen. Deshalb möchte und wird die DB AG mit den entsprechenden Partnern auf zukunftsgerichtete Lösungen setzen, die mittel- bis langfristig in den Normalbetrieb integriert werden können. Die Projektphase des Konzernprojekts 3D-Druck ist dabei zunächst bis 2019 vorgesehen. Im Anschluss werden diese Themen in die Linie überführt. Doch bis dahin gilt es, neue 3D-Druck-Technologien auf Herz und Nieren zu prüfen.

„Der 3D-Druck eignet sich perfekt für wenige Einzelteile oder Kleinserien, die man kurzfristig braucht“, erklärt Lichte, ein ausgebildeter Maschinenbau- und Wirtschaftsingenieur. „Der höhere Teilepreis im 3D-Druck ist daher kein Argument, wenn wir dadurch den Materialfluss sicherstellen.“

Vielfältige Anwendungen

Die Vielfältigkeit der Anwendungen im 3D-Druck muss allerdings erst einmal in den Köpfen der Entwickler im Unternehmen verankert werden. Bis heute hat Lichte bereits über 40 Workshops in den verschiedenen Standorten durchgeführt. Im direkten Austausch wird seitens des Projektteams das Bewusstsein über die Möglichkeiten der Technologien vermittelt, während Ideen aus der Praxis gesammelt und kontinuierlich weiterverfolgt werden. Was kann 3D-Druck? Wo sind die Grenzen? In welche Richtung entwickelt sich die Technologie? Inwieweit ist etwas bereits industrialisiert? Welche Ideen sind bereits im Konzern umgesetzt? Diesen Fragestellungen geht das DB-Team um Florens Lichte jeden Tag aufs Neue nach. „Am einfachsten ist es tatsächlich, ein Beispielteil mitzubringen. Um etwas haptisch begreifbar zu machen, ist nichts überzeugender, als jemandem das gedruckte Teil in die Hand zu geben.“

„Um etwas haptisch begreifbar zu machen, ist nichts überzeugender, als jemandem das gedruckte Teil in die Hand zu geben.“

Florens Lichte, Leiter Konzernprojekt 3D-Druck, Deutsche Bahn AG

Produktionshalle von ACEO® in Burghausen

Blick in die Produktionshalle von ACEO® in Burghausen: Zwei Mitarbeiter fertigen an den computergesteuerten Druckmaschinen Produkte aus Siliconkautschuk. Die Maschinen sowie die Steuerungssoftware wurden eigens für das patentierte 3D-Verfahren von ACEO® entwickelt.

Vermessung der Bauteile

Ein Teil der Qualitätskontrolle besteht in der geometrischen Vermessung der Bauteile. Dazu setzen die Labormitarbeiter von ACEO® ein Messmikroskop ein, das kleinste Details erkennen lässt.

Siliconbauteile in einem Vakuumtemperofen

Die Siliconbauteile werden bei 200 Grad Celsius in einem Vakuumtemperofen thermisch nachbehandelt. Durch diesen Prozessschritt erhalten sie ihre endgültige Festigkeit, gleichzeitig entweichen Reste von flüchtigen organischen Substanzen.

Kontakt

Mehr Informationen zum Thema erhalten Sie von

Herr Dr. Bernd Pachaly
Leiter 3D-Druck ACEO®
WACKER SILICONES
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